Authentisch und anrührend

Das leise Verschwinden

„Kann ja nicht sein. Sie ist gerade mal 77 Jahre alt.“ So beginnt der Bericht von Ingrid Schreiner über das Leben mit ihren demenzkranken Eltern. Bei ihrer Mutter gibt es erste Anzeichen
von Alzheimer und auch bei ihrem 85 Jahre alten Vater stimmt’s nicht mehr so ganz, seine Schwerhörigkeit scheint die Situation noch zu verschärfen. Doch es dauert, bis die Tochter der Realität ins Auge blickt. Sie spricht von einem Jahr. Manchmal kann dies aber auch noch deutlich länger dauern, denn nicht sein kann, was nicht sein darf.

Doch es hilft nicht viel, dass die Tochter und der Arzt die Sache jetzt offen ansprechen. Es prallt an der Mauer des Verleugnens ab: „Was will denn der Arzt? Mir fehlt doch nichts.“, so die Mutter.
Und beide betonen: „Uns geht es gut! Mach dir keine Sorgen!“
In manchen von Demenz betroffenen Familien besteht die Mauer sogar aus Stahlbeton. Nicht nur die erkrankten Personen leugnen heftigst, sondern auch die Angehörigen und das ganze soziale
Umfeld beschwichtigt.
Die Tochter merkt, dass sie mit Logik bei ihren Eltern jetzt nicht mehr weiterkommt. Also wird viel agiert und organisiert, um die Sache im Zaum zu halten:
Vorsorgevollmacht, Pflegeeinstufung, haushaltsnahe Dienstleistungen … Das alles hilft aber nur bedingt. Die Krankheit lässt sich damit ja nicht aufhalten.
Zunehmend macht sich Überforderung breit, bei den Eltern, bei der Tochter. Immer wieder der Versuch zu überzeugen, Hilfe anzunehmen. Tricks werden angewendet, um die Eltern vor Schlimmerem zu bewahren.
Die familiäre Dysbalance wird immer deutlicher. Die Autorin spricht in ihrem Buch von „Zwischen Liebe, Wut und Mitgefühl“, von „Moralischem Druck“, von „Was für eine Last“. Weitere
Aussagen bringen zum Ausdruck, wie schwierig die Situation ist: „Hilfe von außen? Niemals!“, „Meine Kräfte lassen nach und ich brauche selbst Hilfe.“, „Heute auf dem Speiseplan: Gekochter Schinken frisch aus der Spülmaschine.“, „28.400 Kilometer“, „Denk auch and dich!“.
Wie so häufig bei Demenz führt der Weg trotz aller Widerstände irgendwann doch ins Pflegeheim. Der Vater kann nach einer Lungenentzündung und einem Klinikaufenthalt nicht mehr zu Hause versorgt werden. Auch die Mutter geht mit ins Pflegeheim, aber nicht aus Überzeugung. Sie muss dazu überlistet werden.
Auf den Seiten im Buch, auf denen es um den Tod des Vaters geht, hat Ingrid Schreiner das Böhmerwaldlied („Tief drin im Böhmerwald …“) abgedruckt. In Böhmerwäldlerfamilien ist dieses emotional tief verwurzelt und so wird es selbstverständlich von Bläsern am Grab des Vaters gespielt.
Die Mutter erlebt im Pflegeheim ein starkes Heimwehgefühl. Die Frage aller Fragen, so schreibt Ingrid Schreiner, lautet: „Wann kann ich nach Hause?“ Das erinnert mich an eine hochbetagte Dame in einem Pflegeheim, welche den Pflegerinnen und Pflegern immer wieder die Frage stellte: „Wissen meine Eltern, dass ich im Heim bin?“
Und dann ist da noch das Problem mit dem Elternhaus, das zum Verkauf ansteht. Die Mutter darf es auf keinen Fall erfahren, aber auch der Tochter fällt es wahnsinnig schwer, das „Zuhause“
aufzulösen.
Mit der Zeit schwindet die Lebensenergie der Mutter. Sie fällt zusammen, ist ausgelaugt, lebensmüde und tod-traurig. Ingrid Schreiner spricht, so dann auch der Titel des Buches, von einem leisen Verschwinden.
Authentisch und anrührend berichtet Ingrid Schreiner über die Herausforderungen, die das Leben mit ihren demenzkranken Eltern mit sich bringt.
Ein Gedicht von Ingrid Schreiner, das sie an den Anfang ihres Erfahrungsberichts stellt, ist auf der letzten Seite des Heftes zu finden.

— Andreas Steffel

Programm September – Januar 2025

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