Ob der Dichter Novalis, der diese Zeilen vor mehr als 200 Jahren schrieb, wohl einmal selbst im Elsass war und dort dieses Bild, das ein Teil des weltberühmten Isenheimer Altars von Mathias Grünewald ist, mit eigenen Augen gesehen hat – wir wissen es leider nicht. Wenn er dieses Madonnenbild betrachtet hätte, dann hätte er mit Sicherheit auch das bemerkt, was auch uns heutigen Menschen ins Auge fällt: Der Maler Grünewald hat in seinen Bildern keine fernen, abgehobenen Figuren dargestellt, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Die Gottesmutter, die er hier gemalt hat, ist keine unerreichbare Madonna, sondern ein unmittelbar erfassbares weibliches Geschöpf, dem man schon in der nächsten Minute begegnen könnte.
Da sitzt sie nun, Maria mit dem Jesuskind, in ihrem edlen karminroten Kleid und unter dem Schmuck ihrer reichen, fein gerollten Haare. Dieses Gemälde ist ein Bild, das ohne das übliche Inventar mit Krippe, Stern, dem hl. Josef, den drei Königen und Stall mit Ochs und Esel auskommt, und trotzdem wurde hier das vielleicht schönste Weihnachtsbild der deutschen Malerei geschaffen.
Über Maria, die das Kind in ihren Armen hält, bricht der Himmel auf, belebt von einer Fülle kleiner Engel, die sich auf Lichtstrahlen hinauf und hinab bewegen – die göttlichen Boten bringen das frohe Geheimnis der Christgeburt hinaus in die Welt.
Ein Knabe ist uns geboren. Grünewald malt auch ihn, als sei er von dieser Welt: nackt, wohlgenährt, mit den Perlen eines Rosenkranzes spielend. Aber die Windel! Wie kann das sein? Vor dem Prachtgewand der jungen Mutter ist sie von vergilbtem Weiß, durchlöchert, zerfetzt.
Meister Mathias übernimmt sie von der Kreuzigungsdarstellung auf der Vorderseite des Altars und kündigt an: so wird einstmals Jesus Christus, mit demselben Tuch als Lendenschurz auf dem Berg Golgotha ans Kreuz genagelt werden. Und es ist ein weiteres Zeichen des Leidens und des Todes in diesem Bild zu finden: ein Kreuz ist dem geschlossenen Tor, links neben dem Kind, einge fügt.
Der Dichter Novalis hat übrigens sein kleines Mariengedicht mit den Worten geendet: „Und kein Gemälde kann dich schildern, wie meine Seele dich erblickt.“
— Dr. Adalbert Ruhnke